Hannibal Lector als Vegetarier? Oh man, das hätte mich um einige unterhaltsame Stunden gebracht. Kein großes literarisches Werke von Thomas Harris, kein Anthony Hopkins und keine Jodie Foster in „Schweigen der Lämmer“, keine Serie mit Mads Mikkelsen – aus heutiger Sicht undenkbar.
Zurecht fragt sich Autor Thomas Pesl, was die Welt ohne Schurken wäre – nämlich umso langweiliger. Kein Hannibal Lector, kein Captain Hook und keine Herzkönigin, die Alice das Leben im Wunderland erschwert. In seinem Werk „Das Buch der Schurken“ nimmt er das Schurkentum etwas genauer unter die Lupe und lässt uns in die Tiefen bekannter und vielleicht bisher unbekannter Bösewichte aus zahlreichen Literaturzeugnissen blicken. Entstanden ist die Idee zum Buch durch eine Artikelserie im Magazin WIENER, in dem Pesl in jeder Ausgabe einen Klassiker der Weltliteratur vorstellte. Schurken kommen überall vor und scheinen keine Modeerscheinung aus einer Epoche zu sein. So werden im Buch Romane beleuchtet, die aus gänzlich verschiedenen Zeiten stammen – der älteste ist Enkidu aus dem Gilgamesch-Epos (uh, lesen wir auch gerade als Comic), der jüngste Adam Stensen aus T.C. Boyles Hart auf Hart. Das verspricht doch zumindest Abwechslung.
Was ist denn eigentlich ein Schurke?
Schurken üben in der Filmindustrie und Literatur eine kuriose Ambivalenz aus: Sie sind verabscheuungswürdig, meist wenig sympathisch und agieren gegen den Helden einer Geschichten, um alles für ihren eigenen Vorteil herauszuholen. Auf der anderen Seite sind sie diejenigen, ohne die eine Geschichte nicht annähernd so spannend wäre, wie sie letztendlich ist. Sie handeln genauso, wie der Großteil der Zuschauer oder Leser selbst nie handeln würde und doch sind sie es, denen neben Helden eine große Aufmerksamkeit und Faszination zuteilwird, nicht zuletzt, da sie einen Helden erst zum Helden werden lassen und eigentlich immer tun, was sie eben gerade wollen – nämlich ihren Willen durchsetzen. Das macht die schurkischen Figuren so lustvoll, sie sind immer das, was wir nicht sind (also meistens).
Die Frage, was eigentlich ein Schurke genau ist, lässt sich nun nicht einfach beantworten. Schurken handeln meist aus verschiedenen Motiven, manche sind offensiv und brutal böse und mit manchen wiederum sympathisiert man anfangs, um am Ende festzustellen, dass sie in Wirklichkeit die Antagonisten und echt irre sind. Das hat auch der Autor erkannt und versucht seine 100 Schurken in verschiedene Klassen einzuteilen, finde ich gelungen und auch gut umgesetzt. Die 12 Kategorien sind:
- Die Gierigen
- Die Rachsüchtigen
- Die Despoten
- Die Berserker
- Die Egoschweine
- Die Erziehungsberechtigten
- Die fatalen Frauen
- Die Psychopathen
- Die Ungreifbaren
- Die verrückten Wissenschaftler
- Die Über- und Unterirdischen
- Die Könige des Verbrechen
Blick ins Buch
Beispiel
Eingangs erwähnte ich Hannibal – dabei bleibe ich nun auch. Jedem Schurken ist eine Doppelseite gewidmet, die links allgemeine Angaben zum literarischen Werk beinhaltet sowie eine Illustration und ein Zitat der Figur. Auf der rechten Seite ist die Geschichte kurz zusammengefasst und es wird auf den Schurken eingegangen.
Der Autor beweist hierbei einen wirklich lockeren und humorvollen Schreibstil, den ich persönlich richtig gerne mag. Ich konnte das Buch fast nicht mehr aus der Hand legen, da alle Schurken echt kurzweilig vorgestellt werden. Oftmals schon Bekanntes, so ist Hannibal Lector in der Rote Drache der Typ intelligenter Bösewicht, selbst Psychiater und stellt immer die richtigen Fragen, um sein gegenüber zu analysieren oder zu verunsichern. Gleichzeitig ist er Feinschmecker der besonderen Art und hat es auf Scheißkerle wie Rassisten und Kinderschänder abgesehen. Er selbst wird nie bei seinen Taten als Serienkiller gezeigt, gilt aber als gemeingefährlich – obwohl er eingesperrt dem FBI hilft andere Killer zu schnappen, während er in einer Zelle schmort. Man könnte ihm seine ungewöhnlichen Dinner fast gönnen.
Erst in Hannibal und Hannibal Rising wird Lector zur Hauptfigur, die dann auch etwas unsympathischer wird. Interessant sind noch die Fakten, die die kurze Vorstellung ergänzen. Autor Thomas Harris wurde schon 40 Jahre nicht mehr interviewt und lebt sehr zurückgezogen. Die Geschichte zu Hannibal Rising wurde sozusagen erpresst: Entweder schreibt Harris die Geschichte über Hannibals Kindheit in Litauen oder Produzent Dino De Laurentiis tut dies eben selbst. Das ist dann auch die Enthüllung um Lectors Entwicklung zum Serienkiller mit Kannibalismus: Seine Schwester wurde aus Hungersnot als Suppeneinlage von den Nazis gekocht.
Äußerst abwechslungsreiche Literaturwahl
Ich muss gestehen, unvoreingenommen bin ich beim Buch von Thomas Pesl nicht. Ich habe Literatur studiert, habe somit für Klassiker echt was übrig und liebe alles, was mit Schurken (ob fiktiv oder real) zu tun hat. Der Titel hatte mich deshalb sofort – es war also sozusagen Pflicht, dass ich mir das Buch anschaffe.
Der Autor selbst hat nicht den Anspruch wissenschaftlich über die Sinnhaftigkeit eines Schurken zu philosophieren oder ein vollständiges Lexikon zu liefern – er bietet aber einen durchaus mannigfaltigen und unterhaltsamen Einblick. Die Wahl der Schurken ist gut, auch ich habe noch den einen oder anderen Bösewicht entdeckt, den ich noch nicht kannte oder einfach gar nicht als solchen begutachtet habe. Es sind Werke aus aller Herren Länder: aus Europa (deutsch- und englischsprachig), aus Asien, Afrika und Südamerika und die Schurken zeugen von einer gewissen Ausgewogenheit. Nicht nur durch die Einteilung in 12 Kategorien, sondern auch durch die getroffene Auswahl zwischen allseits bekannter Literatur, unbekannter Klassiker, auch solche die vielleicht keine sind, aber sein sollten und letztlich auch durch die Aufnahme von Schurkinnen.
Fazit
Das ist ganz einfach: Jeder der Literatur liebt und mal etwas Abwechslung sucht, sollte sich das Werk anschaffen. Letztlich ist es ein sehr gelungenes Literaturverzeichnis mit Schurken aus sämtlichen Epochen, Schichten und Herkunftsorten. Inhaltlich wird ab und an etwas gespoilert, da es eine kurze (wirklich oberflächliche) Zusammenfassung der Romane gibt, in denen die jeweiligen Schurken ihr Unwesen treiben. Das ist aus meiner Sicht wenig bedenklich, viel mehr noch treibt es den Leser an, einen Roman in die Hand zu nehmen und zu verschlingen.
Ich habe bei der Durchsicht und beim Lesen erst einmal geschaut, welche Werke und Schurken ich eigentlich alles kenne. Bei manch einem Schurken blieb ich hängen und musste sofort lesen, wer das denn nochmal war und woher ich ihn oder sie denn kenne. So schwelgte ich mit Effi Briest und Bösewicht Baron von Innstetten tatsächlich in meiner Gymi-Oberstufen- und Abi-Zeit. Hach, war das ätzend – und jetzt lese ich das freiwillig.
Mit einem Satz seien noch die Illustrationen erwähnt, die das ganze Buch visuell etwas auflockern. Die Bleistiftzeichnungen sind sehr einfach gehalten, was nicht heißen soll, dass sie nicht gefallen. Im Gegenteil, ich habe mir die Zeit gerne genommen, um sie genau zu betrachten und mir die Figur, um die es geht, bildlich vorzustellen und abzugleichen wie ich sie sehe und wie der Zeichner Kepler sie illustrierte.
Alles im Allen: Kaufen.
Was genau?
Titel: Das Buch der Schurken – Die 100 genialsten Bösewichte der Weltliteratur
Autor: Thomas Pesl
Illustrationen: Kristof Kepler
Verlag: btb
Seitenanzahl: 256 Seiten, Softcover
Erscheinen: 09.01.2018
Preis: 12 €